Personen und Institutionen (Abteilung für Psychotherapie und Medizinische Psychologie)
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Aufgrund der Zunahme von chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendlichenalter (RKI, 2004) ist der Bedarf an spezifischen und qualifizierten Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen für diese Personengruppen gestiegen. Die Zahl an medizinischen Rehabilitationsleistungen für Kinder und Jugendliche hat zwischen 1998 und 2004 zugenommen, doch ist davon auszugehen, dass die Inanspruchnahme unter dem realen Bedarf liegt (Petermann, Koch & Hampel, 2006). Zur Indikationsstellung ist eine mehrdimensionale Betrachtungsweise unter medizinischer, pädagogisch-psychologischer, ggf. psychiatrischer sowie familiärer und sozialer Perspektive erforderlich. Diese ist mit dem SGB IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, das wesentliche Aspekte der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO aufgreift, in die Definition von Rehabilitationsziel und ‑bedarf aufgenommen. Die im Antragsverfahren verfügbare Informationsbasis zur Bedarfsprüfung ist teilweise gering. Dies trifft insbesondere für die Bereiche der Störungen der Aktivitäten, Partizipation und Kontextfaktoren zu. Zunehmend wird deshalb auch die Verwertbarkeit und Validität von Selbstbeurteilungsfragebögen der Versicherten diskutiert (Seger, 2005). Die ICF mit den Komponenten der „Körperfunktion und -struktur“, der „Aktivität und Partizipation“ und der „umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren“ eignet sich als konzeptioneller Rahmen nicht nur für die ärztliche Beurteilung, sondern auch zur Entwicklung von Selbstbeurteilungsinstrumenten. Vorhandene Instrumente bilden jedoch nur einzelne, für die Bedarfsfeststellung zentrale ICF-Domänen ab. Einer umfassenden Bedarfsklärung kommt insbesondere im Bereich der Prävention und medizinischen Rehabilitation bei Kindern und Jugendlichen - wo vielfältige Versorgungsstrukturen mit unterschiedlicher Qualifikation bestehen - ein hoher Stellenwert zur Umsetzung der Grundsätze der Zielorientierung, Bedarfsgerechtigkeit und Wirksamkeit zu.
Ziel des vorliegenden Projekts ist die Entwicklung und Praxiserprobung eines Selbstbeurteilungsfragebogens für Eltern zur Unterstützung der Bedarfsbeurteilung an medizinischen Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen. Das Instrument soll als sinnvolle Ergänzung zur Beurteilung der körperlichen Integrität mittels medizinischem Gutachten, die Bereiche der seelischen/psychischen, sozialen und familiären Integritätsbeeinträchtigungen erfassen und damit eine zusätzliche Informationsgrundlage in der Antragsbeurteilung darstellen.
Zur Konzeption des Fragebogens wurden mittels Literaturrecherche fünf Kernbereiche zur Einschätzung des Rehabilitations- und Vorsorgebedarfs bei Kindern und Jugendlichen extrahiert: (a) körperliches und psychisches Befinden, (b) (psychosoziale) Verhaltensauffälligkeiten, (c) individuelle Krankheitsverarbeitung, (d) Beeinträchtigungen im Bereich Familie, Eltern-Kind-Interaktion und Schule sowie (e) Freizeitaktivitäten und Einbindung ins Gemeinschaftsleben. Diese wurden in Anlehnung an eine Facettenanalyse (Bortz & Döring, 2005) den entsprechenden ICF-Domänen zugeordnet. Die Definitionen der untersten ICF-Kategorien der relevanten Domänen (WHO, ICF-CY) wurden zur Itemkonstruktion herangezogen. Eine vorläufige Itemsammlung wurde nach methodischen Aspekten der Item- und Fragebogenkonstruktion erstellt und im Expertengespräch selektiert. Es wurde ein generischer Elternfragebogen mit 32 Items entwickelt, der für Kinder ab dem sechsten Lebensjahr geeignet ist. Davon sind 6 Items der ICF-Komponente „Körperfunktion“, 17 Items der Komponente „Aktivität und Partizipation“ und 4 Items den „personenbezogenen Kontextfaktoren“ zugeordnet; 5 Items entfallen auf eine individuelle Zielbewertung durch den Antragsteller. Für Mutter/Vater-Kind-Maßnahmen enthält der Fragebogen zusätzlich 14 Items zur Belastungssituation der Mutter.
Die Evaluation des Fragebogens erfolgte in einer querschnittlichen Fragebogenerhebung im Antragsverfahren der Hamburg Münchener Krankenkasse. Untersucht werden konsekutive Zeitstichproben von Antragstellern von Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen für Kinder- und Jugendliche sowie Mutter/Vater-Kind-Maßnahme (nach § 23, 24, 40, 41 SGB V). Der Fragebogen wird von den Probanden ergänzend zu den herkömmlichen Antragsunterlagen ausgefüllt. Zur psychometrischen Evaluation wurden Itemanalysen mittels deskriptiver Itemkennwerte durchgeführt. Zur Validierung des Fragebogens wurden Korrelationskoeffizienten mit Items aus validierten Instrumenten berechnet. Daten zur Praxisgüte des Fragebogens wurden mittels halbstrukturierter Interviews mit den Sachbearbeitern der HMK und Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) erfasst.
Im Untersuchungszeitraum lagen insgesamt Anträge für 126 Kinder innerhalb der berücksichtigen Maßnahmen vor. Bei 108 Kindern bestand die Bereitschaft der Eltern zur Studienteilnahme (86%). Nach weiterem Ausschluss gingen 106 Kinder in die Analysestichprobe ein. Die Kinder waren im durchschnitt 8 Jahre alt. Die Geschlechterverteilung war in etwa ausgeglichen. Bei 71 Kindern (67%) lag im ärztlichen Befundbericht mindestens eine Diagnose nach ICD-10 vor.
Hinsichtlich der Art der beantragten Maßnahme handelte es sich fast ausschließlich um Anträge auf Mutter/Vater-Kind-Vorsorgemaßnahmen (94%). 68% der Maßnahmen wurden genehmigt, bis auf eine Ausnahme auch entsprechend der beantragten Leistung. Der Teilnahmegrund des Kindes wird in etwa zur Hälfte mit gesundheitlichen Aspekten begründet.
In der psychometrischen Evaluation der Items zeigen sich bis auf wenige Ausnahmen gute deskriptive Verteilungskennwerte. Die Items haben ausreichend Varianz und es liegen keine Decken- und Bodeneffekte vor. In den meisten Itembereichen können auch gute Validitätsindices, in der Korrelation mit den validierten Verfahren, ermittelt werden.
Der Fragebogen wurde hinsichtlich seiner Praktikabilität in der täglichen Antragsbearbeitung sowohl von den Mitarbeitern der Krankenkasse als auch des MDK (N = 4) überwiegend positiv bewertet und für eine weitere Anwendung empfohlen.
Insgesamt liegen für den Elternauskunftsbogen vielversprechende Ergebnisse vor, die eine ausreichende Grundlage für eine Fragebogenrevision darstellen. Diese soll nach Abstimmung mit dem Förderer - unter Berücksichtigung von inhaltlichen Aspekten und aktuellen Entwicklungen der Antragsunterlagen - erstellt werden.